R E P O R T A G E

Die internationale Fernsehproduktion der 66. Vierschanzentournee in Oberstdorf 2017

Kameraleute und Skispringer müssen mutig und fit sein

Neuschneemassen, Sonnenschein, Dauerregen, Sturm und Tauwetter stellen die äußeren Bedingungen für Produktionspersonal, Skispringer und Publikum beim dreitägigen Auftaktskispringen der 66. Vierschanzentournee in Oberstdorf dar. Eine Highspeed-Seilkamera und die neuartige Berechnung der idealen Absprungzeitpunkte der Skispringer sind als Fernseh-Weltpremieren zu sehen. Knapp 10 Millionen Zuschauer schauen insgesamt die ARD-Liveübertragungen.

Text und Fotos: Bernhard Herrmann

Kamera- und Produktionspersonal benötigt im Außenübertragungseinsatz Thermounterwäsche, winddichte Schneejacken mit Kapuzen, regendichte Hosen, Mützen, Schals, Handschuhe, dicke Socken, warme Winterstiefel mit Steigeisen, Wischtücher für Kameraoptiken, heiße Getränke und Schneeketten für Fahrzeuge. Wir befinden uns aber nicht bei einer Filmproduktion über alpine Bergsteiger oder einer Polarexpedition, sondern im Wetterchaos in Oberstdorf bei der internationalen Fernsehproduktion der 66. internationalen Vierschanzentournee der Skispringer.

Wer am Donnerstag nach Weihnachten 2017 bei diesigem Wetter aus dem graugrün Norden mit der Bahn nach Oberstdorf anreist, freut sich auf schöne Bilder mit glitzerndem Schnee in der Sonne und das Alpenpanorama. Je weiter der Zug nach Süden fährt, umso schneebedeckter zeigt sich die Landschaft. Ab Immenstadt benötigt der vollbesetzte Dieseltriebwagen seine gesamten Pferdestärken, um sich langsam den Weg durch etwa 40 Zentimeter Neuschnee im Oberallgäu zu ebnen. In Oberstdorf abgekommen, bahnen sich un­zählige Touristen und TV-Mitarbeiter im dichten Schneetreiben den Weg zur Schattenbergschanze. Mehrere Schneepflüge schieben die erst seit dem Vortag vom Himmel fallende weiße Pracht beiseite. Ein überfüllter Stadtbus bringt die Fahrgäste vom Bahnhof zur Talstation der Nebelhorn Seilbahn. Nach wenigen Metern Fußweg ist die Zufahrtstraße zur Schanze für alle Fahrzeuge gesperrt. Der Rüstwagen eines Dienstleisters steht quer zur Fahrbahn, weil der ortsunkundige Sattelzugfahrer zu früh in eine schmale Seitenstraße abbog. Trotz Schneeketten ging es zunächst weder vor noch zurück. Nachfolgende Produktionsfahrzeuge kommen den Berg nicht hinauf.

Zu Fuß im TV-Compound angekommen, stehen dort seit zwei Tagen vor Heiligabend der HDTV-Übertragungswagen Ü7 und Rüstwagen von TV Skyline für die internationale TV-Produktion. Florian Moos, Technischer Leiter von TV Skyline, ist froh, dass die rund 20 Kilometer Kabel (davon 2x 24 Multiglasfaserkabel) etwa 400 Meter weit bis zur Schanze bereits unter der hohen Schneedecke liegen. Alle 30 Kameras sind verkabelt und stehen betriebsfertig an den vorgesehenen Positionen. Nachdem der steckengebliebene Rüstwagen mit Verspätung aus dem Tal neben dem dazugehörenden Ü-Wagen einparkt, ist der TV-Compound am Nachmittag komplett.

Rudi Tusch, gebürtiger Oberstdorfer, 1973 deutscher Meister von der Großschanze, ehemaliger Skisprung-Bundestrainer und jetzt beim Host Broadcaster Deutscher Skiverband (DSV) Leiter der TV- und Event-Koordination, sitzt im DSV-Bürocontainer an seinem Notebook. Tusch steht auch mit Walter Hofer, Renndirektor der FIS, in ständigem Kontakt, checkt Wetterdaten, telefoniert und organisiert. Für den redaktionellen Teil der TV-Produktion ist Sportredakteurin Katja Streso seitens des DSV verantwortlich, die am Nachbartisch arbeitet. „Dirigent“ von 19 Kamerafrauen und -männern, Bildmischerin, fünf unbemannten Kameras, acht Slomo- und einem Highlight-Operator, zwei Grafik- und Daten-Operator für die internationale Regie des DSV ist Regisseur Thomas Strobl. Das Weltbild wird in rund 40 Länder live übertragen. Etwa 100 TV-Stationen berichten mit dem Material aus dem produzierten Worldfeed. Eine geplante technische Funktionsprobe, bei der Kameraeinstellungen mit zehn Vorspringer geprobt werden sollen, muss bei anhaltendem Schneetreiben ausfallen. Am Abend stellt Strobl den Sportredakteuren und Regisseuren der nationalen TV-Sender sowie den Offiziellen im Oberstdorfhaus sein internationales Regiekonzept samt Weltpremieren vor und beantwortet Fragen.

Beim Blick aus dem Hotelzimmerfenster am Freitagmorgen ist das imposante Alpenpanorama im aufgehenden Sonnenlicht hinter der hoch verschneiten Landschaft zu sehen. Der Blick auf die Winteridylle muss kurz bleiben, weil bereits Tauwetter einsetzt. In der Arena sind schon unzählige Helfer damit beschäftigt, Schanze, Aufsprunghang und Auslauf zu präparieren. Die Schneemassen müssen von den Open-Air-Tribünen und Wegen weggeschaufelt sowie mit Radladern weggefahren werden. Techniker der Fernsehsender befreien die Ausrüstung an den Präsenter-Positionen vom Schnee.

Am Qualifikationstag der 67 Skispringer beginnt die Regiebesprechung um 13.00 Uhr im TV-Compound. Regisseur Thomas Strobl erläutert dem Kreativpersonal den Ablauf der Liveübertragungen, seinen mit der Dispo übersandten Kameraplan und die Bildgestaltung für die etwa einminütigen Skisprünge samt allen Bildvariationen. Das internationale Programmbild wird aus den Bildangeboten der 30 Kameras, acht Slomos (live und/oder re-live) mit Atmosphäre und Emotionen vom Publikum, Reaktionen der jeweiligen Trainer und Sportler, Skispringern: beim Aufwärmen, im Aufenthaltsbereich, Gang, Aufzug und Turm zur Schanze, dem Auslauf in der Arena und der Leader Box bestehen. Das Livebild jedes Skisprunges wird mit etwa sieben Grafiken und Daten (Nameninsert mit Foto des Skispringers, zu überbietende Sprungweite, Windmessungen, Absprunggeschwindigkeit, Aufsprungweite, Jurypunkte) in exakter Abfolge angereichert.

Damit das große „Orchester“ nach der sekundengenau getakteten „Running Order“ harmonisch zusammenspielt und der Zuschauer die visuellen Inhalte der Bewegtbildkompositionen, ergänzt um die nationalen Kommentierungen der jeweiligen Sportreporter, in hoher Qualität genießen kann, fordert Regisseur Thomas Strobl vom Kreativpersonal: „Seid mutig!“ Dieses gilt gleich in doppelter Hinsicht. Denn um einige Kamerapositionen an der Schanze über steile, glatte und schneebedeckte Pfade gefahrlos zu erreichen, müssen sich mehrere mutige Kameraleute zuerst Steigeisen unter die Stiefelsohlen schnallen. Vor dem offiziellen Trainingsbeginn sind zunächst die Vorspringer am Start und die besprochenen Kameraeinstellungen und Bildfolgen werden dabei geprobt.

Die internationale TV-Produktion zeigt den Fernsehzuschauern zwei Weltpremieren. Eine Highspeed-Seilkamera, die von Reiner Ellwanger von HS-DynaX5 Cam Solution entwickelt wurde, besteht aus der Basisstation, die hinter dem Publikum in der Arena errichtet ist. Darin befindet sich die Maschine mit einem starken Elektromotor. Über Umlenkrollen wird ein 800 Meter langes Kunststoffseil, ähnlich einem Bergsteigerseil, bis zu einer Halterung oberhalb der Schanzenspitze gleichfalls über Umlenkrollen geführt. Die Seilenden sind rechts und links unten an einer Art antriebslosen Rollenwagen befestigt. Daran befindet sich die Stromversorgung mit Akkus, Sender für Videosignale und Empfänger für die Kamerasteuerung. Oben auf der Konstruktion sind drei Rollenhalterungen befestigt, durch die das Seil läuft. Unterhalb der Halterung ist ein etwa 25 Kilogramm schweres 5-Achsen-Kamera-Stabilisierungssystem montiert. Darin befindet sich wettergeschützt eine Sony HDC-P1 Kamera mit einem Canon-Weitwinkelobjektiv. Die Highspeed-Seilkamera erreicht eine Geschwindigkeit bis zu 200 Stundenkilometern, erläutert Ellwanger. Bedient wird das System von zwei Mitarbeitern, die neben der Basisstation in einem Arbeitsplatzhäuschen sitzen. Ein Operator steuert unter Beobachtung von zwei Monitoren mit zwei Joysticks die Kamera. Der zweite Operator steuert computerunterstützt die Maschine mit Seilantrieb und beobachtet die Bewegungen der Seile durch ein Fenster.

Jahrzehnte lang wurde überlegt, wie ein Skispringer von der Startluke der Schattenbergschanze in 140 Metern Höhe, über den 108 Meter langen und steilen Anlauf, den Absprung mit etwa 92 Stundenkilometern am Schanzentisch in etwa 85 Meter Höhe, dem Flug geradeaus und in die Tiefe, der Landung auf dem Hang mit etwa 98 km/h bei einem Gefälle von etwa 38 Grad sowie dem Auslauf in die Arena, sinnvoll in einem Stück für den Zuschauer im zweidimensionalen TV-Bild mit den imposanten Höhenunterschieden dargestellt werden kann. „Diese Bildeinstellungen realisiert jetzt erfolgreich die neue Highspeed-Seilkamera. Mithilfe der individuell einstellbaren Seilspannung fliegt die Kamera erschütterungsfrei und quasi wie ein Adler parallel neben dem Skispringer auf gleicher Höhe mit, vorneweg, hinterher oder daneben obendrüber“, erläutert Regisseur Thomas Strobl, der sein Know-how zur Systementwicklung beisteuerte. Hörbar ist die Highspeed-Seilkamera an einem Düsenantrieb ähnlichen Geräusch, was die drei Rollen am Seil aufgrund der hohen Geschwindigkeit von etwa 120 km/h erzeugen.

Bei der zweiten Weltpremiere wird der Absprung der Sportler am Schanzentisch gemessen und für den TV-Zuschauer visualisiert. Dazu hat Simi Reality Motion Systems acht kleine Hochgeschwindigkeitskameras mit 250 Bildern/Sek. um den Schanzentisch positioniert. Ein Skispringer fährt mit etwa 90 Stundenkilometern auf die Schanzentischkante zu. Davor gibt es laut Renndirektor Walter Hofer, sechs Meter gerade Strecke, in welcher der Athlet abspringen muss. Hierfür hat der Sportler laut Hofer etwa 150 Millisekunden Zeit. Ob der Athlet dann zu früh oder zu spät abspringt, ist mit den Augen kaum erkennbar. Bei einer vier Sekunden Messung der acht Kameras entstehen 8.000 Einzelbilder, aus denen der Schwerpunktverlauf des Skispringers herausgezogen wird, erläutert Hofer. Die computerberechnete Auswertung dauert etwa 10 Sekunden. Das Ergebnis in Zentimetern „zu früh“ oder „zu spät“ wird als animierte Grafik in das Slomo-TV-Bild vom Skispringer eingeblendet. „Wir identifizieren den genauen Absprungzeitpunkt über die Gelenkwinkel und -positionen der Beine“, erläutert Philipp Russ, Leiter Geschäftsentwicklungen bei Simi.

Nach starkem Sturm in der Nacht setzt am Samstag weiter Tauwetter ein. Bei Außentemperaturen von 5,5 Grad Celsius, einer Schneetemperatur von minus 6,5 Grad Celsius und Luftfeuchtigkeit von 92 Prozent bei Dauerregen mit Windböen muss die Ausrüstung, Kameras und Objektive trockengelegt werden. Im Gegensatz zu Foto-Objektiven bieten die zum Teil gleichen Hersteller von TV-Objektiven noch immer keinen sinnvollen Objektivschutz bei Regen und Schneefall an. Daher sind die Linsenputztücher der Kameraleute vom regelmäßigen wegwischen der Regentropfen rasch nass. Die Regiebesprechung findet um 14.00 Uhr und wegen des anhaltenden Regens in Cateringzelt statt. Regisseur Thomas Strobl fordert das Kreativpersonal wieder auf: „Seid mutig!“. Das Skispringen mit 25 qualifizierten Sportlerpaarungen beginnt im Worldfeed mit dem 60 Sekunden Countdown. Strobl spricht dabei aus dem internationalen Ü-Wagen seine Kollegen in deren nationalen Ü-Wagen an: „Hello everybody wehave 20 seconds to the program. Good luck for everybody and have fun and a good production“. Sportredakteurin Katja Streso sitzt mit in der Bildregie und hat „Running Order“, Skispringer sowie Datenmonitore fest im Blick. Strobl gibt um 16.20 Uhr kurze Kommandos: „Noch 10 (Sekunden). Achtung für den Flug in der (Kamera) 6. Mit Titlepage. Warte, ich schicke dich dann los (für Kamera 6). Und die 6 – los. Grafik rein…“ Die TV-Zuschauer sehen das Livebild als langsamen Flug der Highspeed-Seilkamera über der verregneten Schattenbergschanze, hinunter in die Arena und im Hintergrund Oberstdorf in der beginnenden Abenddämmerung. Dazu liefert die Tonregie die Mehrkanal-Atmo von jubelnden Menschenmassen in der Arena.

Etwa 25.500 Zuschauer verfolgen das Skispringen in der ausverkauften Arena bei Dauerregen bis nach der Siegerehrung. Sportlich gewinnt in Oberstdorf der Pole Kamil Stoch, wie auch den gesamten Wettbewerb der 66. Vierschanzentournee. Skispringer Richard Freitag erreicht in Oberstdorf Platz zwei und der Pole Dawid Kubacki Platz drei.

TV-Produktion international:

  • 1 HD Ü-Wagen, Rüstwagen (Ü7 von TV Skyline)
  • 30 HD-Kameras (14 Grass Valley LDX 86n, 4 LDK 8000 drahtlos, 1 Ikegami NAC Hi-Motion II 1000 Bilder/Sek., 2 LMP HD 1200, 4 TV Skyline Qube Cam 2)
  • 2 Kamera-Kräne: auf Schanzenturm und im Auslauf der Arena
  • 1 Polecam an der Startluke
  • 2 Slomotion-Kameras über der Landezone (HTTV)
  • 1 Highspeed-Seilkameras Sony HDC-P1 (HS-DynaX5 Cam Solution)
  • 2x 24 Multiglasfaserkabel jeweils etwa 400 Meter lang
  • 8 Hochgeschwindigkeitskameras am Schanzentisch für Absprung (Simi)
  • diverse Monitore, Messgeräte, Zeitnahme, Daten und TV-Grafik (Swiss Timing)
  • Mikrofone an allen Kameras und diverse für Atmo-Mehrkanalton
  • 1 SNG
  • 1 IPTV-Broadcast (Vidi)
  • 1 Steiger neben dem Schanzentisch (Mateco)
  • Bebauungen mit 8 Kameratürmen bis sechs Meter Höhe, 10 Podeste, 10 Kabelüberführungen (vpt)
  • 8 Büro- und Produktionscontainer (für DSV, Swiss Timing, Infront, Technik)
  • 1 Mobiles Stromaggregat für TV-Technik: 220 kW, 3 Phasen zu je 400A, entspricht dem Verbrauch von 1100 Elektro-Heizgeräten zu je 2 kW (Warmbold)
  • 12 Kabinen für TV- und Hörfunk-Reporter mit TV- und Datenmonitoren
  • HD-Bild: 1080i, Ton: Mehrkanalton Dolby Digital 5.1
  • 90 Personen

TV-Produktion national:

  • 4 HD Ü-Wagen, 4 Rüstwagen, 3 Schnittmobile, Büromobil (BR für ARD: Deutschland; Eurosport: Sprachversionen Englisch, Deutsch; NRK: Norwegen; ORF: Österreich)
  • 1 Ü-Wagen Hörfunk (BR für ARD)
  • 3 SNG (ARD, NRK, Sky)
  • Diverse Transporter für Personal
  • 50 Personen
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